Dieser Roman zählt zu den bekanntesten Werken der ostdeutschen Science Fiction und wird auch heute oft als erstes angeführt, wenn eine Fachsimpelei auf die DDR zu sprechen kommt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich auch dieses Buch einmal lesen musste, zumal ich auch hier bereits ein bis dahin ungelesenes Exemplar geerbt und schon viele Jahr im Schrank stehen hatte.
Und der Mythos und die damit einhergehende Ehrfurcht meinerseits vor diesem Buch ist groß. Andymon ist 1982 in der BASAR-Buchreihe im Verlag Neues Leben erschienen. Parallel aber auch schon im westdeutschen Union-Verlag in einer etwas robusteren Hardcover-Ausstattung. Diese Ausgabe von drüben erzielt heute auf den gängigen Internetauktionsportalen überraschend hohe Preise, während die Softcover-Version aus der DDR auch im guten Zustand bereits für einen schmalen Taler zu haben ist.
Ich persönlich bin kein Freund der Paperback-Produktionen aus dem Osten, denn selbst so manchem ungelesenen Büchlein bricht heute über 30 Jahre nach der Wende schon beim einfachen Aufklappen der Buchrücken auseinander. Mit herausfallenden Seiten habe ich noch öfter zu kämpfen. Meine ganz eigene Vermutung ist, dass der verwendete Klebstoff nach so langer Zeit ausgetrocknet und brüchig geworden ist.
Als wesentlich langlebiger erweisen sich die gebundenen Werke im Hardcover. Aber was soll ich machen? Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Aber aufgrund des großen Erfolges des Autoren-Duos Angela und Karlheinz Steinmüller gibt es Andymon auch in neueren hochwertigeren Editionen zu kaufen. Die aktuelle Auflage aus dem Memoranda-Verlag ist auch noch bestellbar.
Der Erfolg muss damals schon enorm gewesen sein, denn nur drei Jahre nach der Veröffentlichung gründete sich am 6. Februar 1985 in Berlin-Treptow der auch heute noch sehr aktive „Sciene-Fiction Club „Andymon„.
Aus diesem Club kommt auch eine Umfrage aus dem Jahr 1989 nach dem besten Science-Fiction Roman der DDR. Bei diesem Clubnamen ist es kein Wunder, dass Andymon die Umfrage anführt. Aber je nach Quelle haben auch nur 16 oder 17 Personen abgestimmt. Repräsentativ wäre wohl etwas anderes. Vor allem, da diese Umfrage bis heute noch in Zeitungen und Online-Artikeln herangezogen wird, wenn es um das „beste“ Buch geht.
Zur Ehrenrettung muss allerdings noch gesagt werden, dass eine wesentlich größere Umfrage des Ost-SF-Fanzines „transFer“ Nr. 6 im Folgejahr 1990 mit immer schon schon 109 Teilnehmenden das gleiche Resultat erbracht hat. Und wer dennoch Zweifel hat, eine weitere Umfrage aus dem Jahr 2022 mit 61 Abstimmenden, dieses Mal online, hat die Spitzenposition ein weiteres Mal bestätigt.
Der Titel hat also einen gewissen Ruf. Denn all das, was ich bis hierhin geschrieben habe, wusste ich bereits lange bevor ich das Buch gelesen habe. Aber wie sieht es mit dem Roman selbst aus?
Im Zentrum des Geschehens steht Beth, ein künstlich erschaffener Mensch aus einem Inkubationssystem. Er gehört als Zweitältester zu einer Gruppe von insgesamt 8 Personen, die so genannte „erste Gruppe“. Er wird von einer „Ramma“, einem Roboter zur Betreuung von Kleinkindern aufgezogen. Aus seinen Augen erleben wir eine Art aufgeschriebenen Lebensbericht in einer zurückblickenden Perspektive.
Beth und seine Geschwister wachsen in einem großen Naturpark auf, der wiederum Teil eines Raumschiffes ist, das bereits viele tausend Jahre im Weltraum unterwegs ist. Erst mit der Zeit erfahren wir, gewissermaßen parallel zum Erwachsenwerden des Ich-Erzählers. Dass dieses Raumfahrzeug ohne Besatzung unterwegs ist und erst am nahenden Ende seiner Reise damit beginnt Menschen aufzuziehen, welche schließlich sowohl das Kommando über das Schiff übernehmen, als auch die Besiedlung eines Planeten bewerkstelligen sollen.
Die erste Gruppe bleibt jedoch nicht die einzige. Im Abstand von ca. anderthalb Jahren werden immer weitere Gruppen zu jeweils 8 Personen aufgezogen, welche im Laufe ihrer Kindheit die gleichen Stationen auf dem Schiff durchlaufen und jeweils altersgerecht nachrücken.
Je älter der Protagonist dabei wird, desto mehr erfahren die Leser*innen über seine Gruppe, über seine Umgebung und über die anderen Gruppen auf dem Schiff. Die anderen Geschwister heißen beispielsweise Gamma, Alfa, Delth und so weiter und auch die Geschwister der nachfolgenden Gruppen tragen ähnliche ans Griechische erinnernde Namen.
Meines Erachtens nach liegt der Kernpunkt der Handlung in der sich mit den Jahren herausbildenden sozialen Struktur sowohl innerhalb der ersten Gruppe als auch zwischen den Gruppen. Das Raumschiff bietet natürlich jede Menge für dieses Genre und für diese Zeit übliche technische Highlights, wie ein Computer, der – ohne es künstliche Intelligenz zu nennen – sowohl das Raumschiff steuert, bis die erste Gruppe alt genug dafür ist, als auch die Arbeit der vielen Roboter koordiniert, welche das Schiff warten, aber auch welche in Form der Rammas (Robotammen) die Kleinkinder betreuen, oder später als so genannte „Gurus“ die Funktion eines Lehrers erfüllen.
Ein anderer Nebenaspekt, der erwähnt werden sollte, sind die „Armbandcomputer“, welche alle Menschen auf dem Raumschiff tragen und die ihnen sowohl zum telefonieren, für Videoübertragungen aber auch zur Datenübertragung dienen und welche heute in Form von Smartwatches Realität geworden sind.
An einer anderen Stelle komponiert Eta, ein weiteres Mitglied der ersten Gruppe, mithilfe des Computers Musik, was eher bei den jüngeren Gruppen auf Wohlgefallen stößt. An dieser Stelle musste ich lachen, da ich kurz zuvor eine Menge KI-generierter Musikstücke auf Youtube gehört hatte und direkt eine ganz konkrete Vorstellung davon hatte, wie es sich anfühlen könnte wenn Beth beim Zuhören mit geschlossenen Augen zusammenzuckt und versucht die Disharmonien in Bilder umzusetzen.
Aber all diese technischen Vorhersagen schaden dem Buch nicht, da es ganz im Gegensatz zu den bisher auf diesem Blog besprochenen Titeln, den Fokus auf eine soziale Utopie legt und die technischen Utopien eher im Hintergrund stehen. Zumindest gibt es hier keine länglichen Exkurse über die Wirkung von Schwerkraft, Signallaufzeiten oder das Wesen der Lichtgeschwindigkeit.
Stattdessen konzentriert sich diese Autobiografie des Beth voll und ganz auf die Erkenntnisprozesse, die Bewusstwerdung der aufwachsenden Menschen und die Suche nach dem Sinn ihrer Existenz. Diese Frage gewinnt unter anderem deswegen an Brisanz, da es keine älteren Menschen auf dem Schiff und damit keine Eltern gibt.
Zudem stellen die jungen Schüler im Laufe ihrer Studien fest, dass dem Schiffscomputer sämtliche historische Daten nach dem 31. Dezember 1999 fehlen und selbst die genaue Position des heimatlichen Sonnensystems und damit auch der Erde unbekannt sind.
Zwischen Selbstzweifel und Selbstfindung hin und her taumelnd berichtet Beth davon, ob und wie die Gruppen ihr Missionsziel selbst festlegen können und darüber welchen Planeten sie besiedeln wollen oder überhaupt können.
An diesen Stellen kommt meines Erachtens nach der Untertitel des Romans „Eine Weltraum-Utopie“ erst richtig zum tragen. Wie und wann bildet sich eine Hierarchie in der ersten Gruppe heraus? Wie werden Probleme gelöst oder Streit vermieden? Wer übernimmt vielleicht die Führung?
Ohne an dieser Stelle viel mehr enthüllen zu wollen, wird der Zielplanet „Andymon“ heißen und die große Aufgabe darin bestehen, den Planeten zu besiedeln. Hierfür muss das nötige Wissen erlernt werden und die Aufgaben geplant und im gegenseitigen Einvernehmen verteilt werden. Auch die Ressourcen des großen Kolonieschiffs sind endlich und weitere Konflikte damit vorprogrammiert.
Aufgrund meiner späten Geburt habe ich die Jung- und Thälmannpioniere nicht mehr miterlebt, aber an vielen Stellen musste ich an etliche Geschichten aus der Pionierzeit meiner Bekannten und Verwandten denken. Allerdings nicht auf die komisch-gezwungene Art, wie sie in der Realität wohl meist erlebt wurde, sondern in der idealisierten, der bestmöglich vorgestellten Variante.
Ein Haufen junger gesunder Menschen, die Freude am Lernen und Erschaffen haben und sich in Erfüllung ihrer Pionierregeln gegenseitig helfen und dabei technische und wissenschaftliche Heldentaten vollbringen. So albern das in dieser Zusammenfassung klingt, in dem Buch liest es sich vollkommen aufrichtig. Es ist mit sehr viel Liebe und Können geschrieben worden und es fiel mir regelrecht schwer am Ende der 279 Seiten davon abzulassen.
Andymon kann daher als eine Utopie im besten Sinne verstanden werden aber, so interpretiere ich es, vielleicht auch als ein Wunsch oder ein Vorschlag, wie sich Konflikte in Kollektiven gewaltfrei und ohne autoritäre Unterwerfung lösen lassen könnten. Das es dazu aber die äußerst hohen Grade an gesellschaftlicher und individueller Reflexion bedarf, wie sie die Gruppenmitglieder in dem Roman bereits erlangt haben, würde ich als eine Lehre daraus mitnehmen.
Als ich das Buch ausgelesen hatte, musste ich noch eine ganze Weile darüber nachdenken, was da eigentlich alles drin steckt und ich bereue ein wenig es nicht schon viel früher gelesen zu haben. Um so enttäuschter war ich, als ich festgestellt habe, dass es offenbar weder eine Fortsetzung noch inoffizielle Fanfiction zu Andymon zu geben scheint.
Die beiden Autorinnen sind aber noch aktiv und haben in der Folge viele weitere Geschichten veröffentlicht. Hin und wieder treten sie auch im Rahmen von Vortragsveranstaltungen, unter anderem zu ihrem Thema, der Zukunftsforschung, auf. Ich brauche die Hoffnung auf eine Fortsetzung also noch nicht ganz aufgeben. Vielleicht kommt da ja doch noch irgendwann mal was!
Der Roman kriegt von mir daher wenig überraschend eine ausdrückliche und uneingeschränkte Leseempfehlung. Wer bei Ost-SciFi Angst vor politischer Überforderung oder vereinfachten Freund-Feind-Schemata hat, kann hier beruhigt zugreifen. Die irdische Weltpolitik spielt hier keine Rolle und wir erfahren auch indirekt nichts über den zukünftigen Gang der Dinge bis zum sagenumwobenen Jahr 1999, nach dem die Aufzeichnungen aufhörten.
Auch in diesen Punkten ist Andymon erfrischend anders als meine bisherige Lektüre auf diesem Gebiet. Als ein weiteres Highlight der BASAR-Buchausgabe empfand ich darüber hinaus auch die in schwarzweiß bzw. Graustufen angefertigten Illustrationen. Im gleichen Stil gehalten wie das Covermotiv, konnten sie meine grüblerische Grundstimmung passend zum jeweiligen Handlungsabschnitt unterstreichen.

Im Kleingedruckten wird dazu lediglich knapp auf „Schulz/Lobwski“ verwiesen. Eine kurze Internetrecherche verrät aber doch noch etwas Kontext. Die beiden werden beispielsweise auf dem Tonträger-Portal Discogs als „Two German (GDR-) designers who have often worked together“ beschrieben. Eine umfangreiche Sammlung an Schallplatten-Hüllen, deren Cover-Gestaltung auf die beiden zurückgeht ist auf Discogs abrufbar und bietet einen spannenden Einblick in ihren Stil.
Eine Einordnung des Romans in mein Bewertungsschema zeigt klar, dass Andymon deutlich anders als die vorherigen Bücher ist. Hier offenbart sich darüber hinaus wohl eine erste größere Schwäche meines Systems, da die meisten Kategorien richtigerweise nur schwach oder gar nicht vertreten sind, aber eines der Hauptthemen der Geschichte, nämlich die Entwicklung der komplexen Beziehungen der Charaktere untereinander, überhaupt nicht erfasst werden kann.
Dass die Bewertung aber selbst beim Tempo nur auf 2 von 4 möglichen Punkte kommt liegt daran – und damit komme ich zu dem einzigen Kritikpunkt, den ich habe – dass mir der Epilog zu lang geraten ist. Ab einer gewissen Stelle wird klar, dass der Handlungshöhepunkt überschritten worden ist und jetzt nicht mehr viel kommen kann. Ab da plätscherte das Geschehen nur noch vor sich hin und meine Aufmerksamkeit wurde allein durch meine große Zuneigung zu den Protagonist*innen aufrechterhalten.
Der gute Ruf, den dieses Buch hat, hat sich klar bestätigt und mit mir haben die beiden Autor*innen ab heute einen neuen Fan gewonnen.





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