Mein Bruder war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und wenn es darum geht wie und warum ich meine Begeisterung für Science Fiction aus Ost und West entwickelt habe, muss ich ihn als den entscheidenden Faktor benennen. Mit diesem Beitrag will ich versuchen meiner individuellen Trauer Raum zu geben und trotzdem etwas zum Thema dieses Blogs beizutragen.

Wie es bei älteren Brüdern häufig vorkommt, haben diese bewußt oder unbewußt einen großen Einfluß darauf welche Interessen die jüngeren Geschwister im Laufe ihrer Kindheit und Jugend entwickeln. Bei mir war es nicht anders. Seit den frühesten Kindertagen war ich nicht zuletzt aufgrund der Faszination, die mein acht Jahre älterer Bruder für alles was mit Computern, Raumfahrt und Außerirdischen mitbrachte, zu jeder Zeit mit Dingen umgeben, die in irgendeiner Art und Weise mit der östlichen Science Fiction und diesem spezifischen Technikoptimismus verbunden waren, welcher der damaligen Gesellschaft innewohnte.

Wie es in Ostdeutschland üblich war, gingen Comic-Hefte durch unzählige Hände gleich mehrerer Generationen junger Leser und Leserinnen und wurden meist erst dann weggeworfen als die Hefte zu zerschlissenen Loseblattsammlungen zerfallen waren. Auch in unserem Haushalt war es so, dass die bereits 1958 erschienen Mosaik-Hefte der Weltraum-Serie, mit denen unsere Eltern bereits ihre Nachmittage verträumt hatten, auch für uns einer der ersten Zugänge zum Raumfahrtthema wurden.

Zielsicher lernten wir die dort präsentierten Geschichten um den Raumschiffkommandanten Bhur Yham auf ihren ideologischen Gehalt zu unterscheiden und in der „Republikanischen Union“ und dem „Großneonischen Reich“ die Fortschreibung der aktuell gültigen Welterklärung in die ferne Zukunft zu erkennen.

Zwischen den Zeilen zu lesen oder im Falle eines Comic-Heftes auch auf die kleinen Details innerhalb der Comic-Panels zu achten, machte immer einen großen Teil des Reizes aus, sich mit der landläufig als propagandistisch verschrienen heimischen Literatur zu beschäftigen. Die Uniformen der Offiziere der Großneonischen Raumstation als einen wilden Mix aus Nazi- und US-Amerikanischen Uniformstilen zu identifizieren war für uns eine leichte Übung.

Gerne erinnere ich mich an die Jahre der Kindheit zurück, in denen wir aus einfachsten Mitteln das Setting für große Abenteuer kreieren konnten. Aus den damals allgegenwärtigen Dingen, wie der Schulsternkarte und dem Schulkompass haben wir eine ein Raumschiff gebaut. Natürlich nur in der Phantasie, aber immerhin. Den sowjetischen Phantastikfilm „Aquanauten“ hat mein Bruder nach eigenen Bekundungen gleich mehrfach im Kino gesehen. Mangels eigenem Fernseher und Onlinestreaming in den 1980er Jahren warscheinlich nicht die schlechteste Weg um seine Freizeit zu verbringen.

Der Schwerpunkt des Interesses ruhte aber – wie so oft im „Leseland DDR“ – auf den Romanen und Anthologien, von denen nicht wenige auch Texte von Autoren und Autorinnen aus dem Ausland enthielten. Die wunderbar gestaltete sechsbändige Ausgabe der Werke des polnischen Autoren Stanislaw Lem aus dem Verlag Volk und Welt hat noch heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.

Und dennoch blieb, besonders als wir älter wurden, immer das Gefühl zurückblieb, dass der Hunger auf neue, buntere und bessere Geschichten – auch „von Drüben“ – nicht gestillt werden konnte. Spätestens mit dem Mauerfall, als in unsere Kinderzimmer die Commodore-Heimcomputer einzogen, futuristischer Techno aus den Kassettenrekordern schallte und uns mit einem Mal der schier unerschöpfliche westdeutsche Science Fiction-Markt offenstand, wurde dieser gesamte Kosmos ostdeutscher „Wissenschaftlicher Phantastik“ verdrängt und führte viele Jahre eine Art Dornröschenschlaf. Die Bücher wanderten immer weiter in den Regalen und vieles landete schlussendlich auch in Kartons und letztendlich im Keller.

Wir konzentrierten uns stattdessen auf Captain Picards philosophische Dispute mit Q, auf die Clankriege im Battletech-Universum und auf die Erforschung der durch den Computer prozedural generierten aber dennoch verblüffend echt wirkenden Milchstraße in „Frontier: Elite II„. Während mein Bruder sich in die Abwehr einer Alien-Invasion bei „UFO: Enemy Unknown“ einzuarbeiten versuchte, vertiefte ich mich mit Band 1797 in die Endlos-Heftserie „Perry Rhodan“. Und mit der Zeit ging jeder von uns seine eigenen Wege.

Nicht vergessen werde ich, wie er 1997 versuchte für mich einen Weg ins Kino zu ebnen, damit ich trotz der FSK 16 mit ihm zusammen Alien 4 gucken konnte. Leider erfolglos. Den Film mit der unvergleichlichen Sigourney Weaver konnte ich erst etwas später auf dem Fernseher schauen.

Das für uns wichtigste Abenteuer war jedoch eines aus dem Osten. Es handelt sich dabei um die Kurzgeschichtensammlung „Das Raumschiff“, welche 1977 im Verlag Neues Leben erschienen ist. Neben Texten einheimischer Autoren wie Klaus Frühauf oder Günther Krupkat finden sich dort eine Reihe von Klassikern aus dem Westen. Ray Bradbury, Isaac Asimov und vor allem unser Favorit: Stanley G. Weinbaum.

Seine Kurzgeschichte „Mars-Odyssee“ war damals bereits ein alter Schinken. Sie wurde ursprünglich 1934 in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht. Die ihr unterschwellige Gesellschaftskritik, die sich in den harten Arbeitsbedingungen der Crew des Raumschiffes Ares äußerte, dürfte der Grund sein, warum Sie auch in der DDR veröffentlicht werden konnte. Für uns war aber die Schilderung der Planetenoberfläche des Mars und selbstverständlich der wundersame Außerirdische namens „Tweel“ wesentlich interessanter.

Mein Bruder versuchte mich, als ich in der Grundschule lesen lernte, dafür zu begeistern die Story mit einer eigenen Geschichtezu weiterzuschreiben. Er selbst hat das Buch noch viele Jahre in seiner Wohnung stehen gehabt. Ursprünglich hatte er es einmal von seinem Vater, zu dem er schon sehr früh jeden Kontakt verloren hatte. Es hatte für ihn eine weitere Bedeutung als Andenken gewonnen. Selbst als er bereits schwer krank war und schon lange keine Bücher mehr las, blieb das Buch immer prominent platziert in seinem Regal.

Als ich vor einigen Jahren in einem Antiquariat ein weiteres Exemplar dieses Buches entdeckte, war meine Neugierde augenblicklich neuentfacht. Schnell hatte ich recherchiert, dass es eine offizielle Fortsetzung zu der Geschichte gab und dass diese bereits 1988 ebenfalls in einem anderen Sammelband in der DDR veröffentlicht wurde. Genau genommen war dies der Ausgangspunkt meiner heutigen Sammlung an ostdeutscher Science Fiction-Literatur.

Eine eigene Fortsetzung habe ich bis heute nicht geschrieben. Als mein Bruder aber im Frühling diesen Jahres nach einer langen Leidenszeit verstorben ist, habe ich mich auf die Suche nach seinem Exemplar gemacht. Tatsächlich konnte ich es in seinem Nachlass finden. Es war in einem schlechten Zustand, aber als Erinnerung werde ich es trotzdem behalten.

Ich vermisse Dich Franki.

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